Meldung im Detail
Pfingsten in Isle
GUNZENHAUSEN - Oradour-sur-Glane steht für die Verbrechen deutscher Soldaten. Sie haben sie unweit von Limoges, der Hauptstadt des Departements Haute-Vienne in der Region Limousin, als Vergeltung für einen militärischen Erfolg französischer Widerständler begangen.
Die Deutschen, die heute nach Oradour-sur-Glane kommen, können nicht schuldig gemacht werden für das Verbrechen, das die SS-Soldaten des Regiments „Der Führer“ am 10. Juni 1944 im kleinen französischen Dorf begangen habe. Aber sie müssen sich verantwortlich fühlen für die schrecklichen Taten, die in deutschem Namen begangen wurden.
Eine 43-köpfige Besuchergruppe aus Gunzenhausen hatte anlässlich eines Besuchs in der Partnergemeinde Isle die außergewöhnliche Ehre, von einem Überlebenden des Massakers im Ruinendorf empfangen zu werden. Robert Hebras ist heute 91 Jahre alt, aber noch immer vital. Er hat als einer von sechs Menschen das Massaker überlebt, als am 10. Juni 1944 642 Menschen auf schreckliche Weise den Tod fanden. Der gelernte Automechaniker konnte sich mit fünf weiteren Männern aus einer brennenden Scheune retten, von denen einer auf der Flucht erschossen wurde. Ebenfalls retten konnte sich eine 47-jährige Bäuerin. Sie war mit 400 anderen Frauen und Mädchen in der Kirche festgehalten worden.
Von den sechs Menschen, die das Unheil überstanden haben, ist Robert Hebras der letzte Überlebende. Er hat die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen zu seinem Lebenswerk gemacht. Der französische Staat hat ihn zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, von Deutschland hat er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten.
Wenn Robert Hebras heute den Besuchern von den schlimmen Vorgängen in den Junitagen 1944 erzählt, dann bleibt er dabei bemerkenswert ruhig und gelassen. Offenbar liegt das auch daran, dass er in den letzten Jahrzehnten viele Menschen an diesen Ort geführt hat und die Konfrontation mit der Geschichte für ihn somit zum Alltag geworden ist. Es war übrigens erst vor drei Jahren, als mit Joachim Gauck der erste Bundespräsident Deutschlands nach Oradour-surGlane kam, um das von der SS vollständig niedergebrannte Dorf zu besuchen. Diese Versöhnungsgeste gilt gleichbedeutend mit der von 1984, als sich Francois Mitterand und Helmut Kohl in Verdun die Hände reichten. General de Gaulle hatte bereits 1946 verfügt, dass das Dorf als Mahnmal so erhalten bleiben soll, wie es damals von den Kriegsgegnern hinterlassen wurde.
Feuer und Schüsse
Die historische Aufarbeitung des Verbrechens stützt sich ganz wesentlich auf die Aussagen der wenigen Überlebenden. Demnach sind damals 120 SS-Soldaten in das Dorf eingezogen, haben aber keinerlei Aggressionen gezeigt. Auf Befehl trieben sie 400 Frauen und Mädchen in der Kirche zusammen, an die 200 Männer und Burschen hatten sich in Scheunen und Werkstätten einzufinden. Die SS- Männer legten Feuer und beschossen die ahnungslosen Menschen mit Maschinengewehren und Handgranaten. Nur 52 Opfer konnten identifiziert werden. Das ganze Ausmaß des Schreckens: 642 Tote, darunter 205 Kinder, 240 Frauen und 197 Männer. Robert Hebras war damals 19 Jahre alt und Automechaniker. Er sagt: „Am Morgen des 10. Juni war ich ein junger Bursche, am Abend war ich zum Mann geworden.“
Den Besuchern aus Gunzenhausen berichtete er Einzelheiten vom Schreckenstag: „In der Scheune, wo ich war, setzten wir uns auf die Heuballen und besprachen, was wir am Abend machen werden.“ Es ahnte immer noch keiner, was weiter geschehen würde. „Plötzlich gab es draußen einen gewaltigen Knall, es war das Zeichen zum Erschießen. Wir mussten uns aufstellen, dann wurde auf uns geschossen. Ich wurde mehrmals, aber nicht lebensgefährlich getroffen. Ich lag unter meinen toten Freunden und Nachbarn, ihr Blut lief über mich, es war schrecklich. Wer sich noch bewegte, erhielt einen Gnadenschuss.
Dadurch, dass ich ganz unten lag, konnte ich mich nicht bewegen, und es wurde nicht bemerkt, dass ich noch am Leben war. Dann nahmen sie das Heu, warfen es auf uns und zündeten es an und gingen aus der Scheune. Als meine Haare zu brennen begannen, traute ich mich, aufzustehen und um mein Überleben zu kämpfen. Es gelang mir die Flucht, ohne zu wissen, was in der Kirche passiert war.“ Der damals 19-Jährige flüchtete zu seiner Schwester in ein nahe gelegens Dorf. „Niemand glaubte mir hier, was passiert war, auch mein blutverschmiertes Aussehen konnte sie zunächst nicht überzeugen.“
1953 eröffnete Hebras eine eigene Autowerkstatt im neu aufgebauten Oradour unweit des Ruinendorfs, 1964 wechselte er in das Nachbardorf Saint-Junien, wo er noch heute lebt.
Nach dem Krieg tat Robert Hebras etwas Ungewöhnliches für einen ehemaligen Kriegsgegner: Er verzichtete auf Hass gegen die Deutschen und verschrieb sich der Versöhnung und dem friedlichen Miteinander von Deutschen und Franzosen, wie dies letztlich auch im deutsch-französischen Friedensvertrag von Paris 1963 seinen Ausdruck fand. Hebras war 1985 auf Einladung des seinerzeitigen Bundeskanzlers Willy Brandt in Nürnberg und sprach dort auf einer Friedenskonferenz. Wie er heute sagt, hat ihm die Begegnung mit dem Friedenskanzler die Augen geöffnet: „Nichts darf in Vergessenheit geraten, aber man muss an die Zukunft denken, und das versuche ich heute nach Kräften zu tun.“
Die juristische Aufarbeitung des Massakers ließ auf sich warten. Erst 1953 verurteilte ein französisches Militärtribunal in Bordeaux 21 SS-Männer, darunter 14 Elsässer, deren Heimat wieder zu Frankreich gekommen war. Ein Deutscher und ein Franzose (Elsässer) wurden zum Tode verurteilt, 18 zu Zwangsarbeit zwischen acht und zwölf Jahren, einer wurde freigesprochen. Das Urteil führte aber unter den Elsässern zu einer erheblichen Unruhe, sodass der französische Staat ein Amnestiegesetz erließ. Die Urteile gegen die Elsässer wurden aufgehoben, die gegen die Deutschen in Haftstrafen umgewandelt. Wenig später wurden alle entlassen. Aus den Todesurteilen wurden lebenslange Haftstrafen, aber 1959 kamen auch diese beiden Verurteilten in Freiheit.
In Westdeutschland gab es keine strafrechtliche Verfolgung. In der „antifaschischtischen“ DDR musste sich 1983 der SS-Obersturmführer Heinz Barth einem Verfahren stellen und erhielt eine lebenslange Haftstrafe, aus der er im wiedervereinigten Deutschland 1997 entlassen wurde.
Die Namen der Opfer
Seit 1999 gibt es das „Centre de la memoire“, einen Ort der modernen Geschichtsaufarbeitung. Auf dem nahen Friedhof erinnern zwei Denkmale an das Massaker. In einem vom Staat erbauten Mahnmal sind alle Opfernamen verewigt, ferner wurden dort allerlei Utensilien zusammengetragen, die man in den Ruinen gefunden hatte. Die Angehörigen der Opfer haben an gleicher Stelle ein eigenes Mahnmal erbauen lassen, das allein durch Spenden finanziert wurde. Dort legten nun die Bürgermeister Gilles Begout(Isle) und Karl-Heinz Fitz (Gunzenhausen) einen Kranz nieder. Sekundiert wurden sie von Philippe Lacroix (Bürgermeister von Oradour) sowie den mitgereisten Stadträten Gerald Brenner, Jürgen Brenner, Arno Dernerth, Werner Falk, Friedrich Kolb, Inge Meier und Alfred Müller. Betroffenheit, Trauer, Kopfschütteln und Stille merkte man der Delegation aus Gunzenhausen beim Gang durch das zerstörte Dorf an. Mit unmittelbarer emotionaler Wucht trifft dort die Grausamkeit des Verbrechens die Besucher.
Werner Falk und Alfred Müller
Bilder: Friedrich Kolb